Was ist Myasthenia gravis?
Ein Artikel von Prof. Dr. F. Schumm, Göppingen
Myasthenia gravis bedeutet schwere Muskelschwäche. Kennzeichen der Erkrankung ist eine Muskelschwäche, die belastungsabhängig ist, und die sich in Ruhe wieder bessert.
Man weiß heute, dass der Störung eine Beeinträchtigung der Reizübertragung vom Nerv auf den Muskel zugrunde liegt.
Dadurch ist die geordnete Muskelanspannung nach einem Nervenreiz gestört. Ursache dieser Störung ist eine fehlgesteuerte Immunreaktion, d. h. eine Bildung von Abwehrstoffen (Antikörpern) gegen körpereigene Strukturen auf der Muskulatur. Wie es dazu plötzlich kommt, weiß man bislang nicht.
Diese Antikörper blockieren nicht nur die Übertragung des Nervenimpulses auf den Muskel, sondern sie zerstören auch diese Muskelbestandteile. Da der Körper selbst gegen körpereigene Struktur Antikörper bildet, spricht man von einer Autoimmunerkrankung.
Welche Symptome können auftreten?
Zu Beginn klagen viele Patienten, vor allem im Laufe des Tages und wenn sie müde sind, über Sehstörungen, vornehmlich Doppelbilder und eine Müdigkeit der Oberlider, so dass die Augen schließlich ungleich weit auf sind. Diese zunächst auf die Augen beschränkte Muskelschwäche kann sich schließlich auf andere Muskelgruppen, so die Sprech-, Schluck- und mimische Muskulatur, ausbreiten. In schweren Fällen kann die gesamte Willkürmuskulatur einschließlich der Atmungsmuskeln betroffen sein. Diese Patienten klagen dann über ein Schweregefühl des Kopfes, über Atemnot bei Belastung und eine zunehmende Schwäche beim Treppensteigen oder auch nur Haarwaschen und kurze Arbeiten mit erhobenen Armen. Die Störungen werden in der Regel bei Anstrengung stärker und sind am Abend ausgeprägter. Meist werden sie auch durch seelische Belastungen, Schlafmangel, Alkohol und Fieber, so z. B. banale grippale Infekte, verstärkt. Viele Frauen beobachten eine Verstärkung der Beschwerden vor der monatlichen Regelblutung und eine Besserung danach.
Der Schweregrad der Erkrankung ist von Patient zu Patient verschieden und kann sich bei ein und demselben Patienten häufig ändern. Es gibt kaum zwei gleiche Myasthenie gravis-Patienten. Jeder Patient hat seine eigenen ganz charakteristischen Probleme und Störungen.
Beginn und Häufigkeit
Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter auftreten. Frauen erkranken früher und oft schwerer. Männer häufig im 4. Lebensjahrzehnt. Man schätzt die Häufigkeit auf etwa einen Erkrankten pro 10.000 Personen. Die Erkrankung ist nicht ansteckend. Die Vererbung ist gering. Mehrere Kranke in einer Familie sind außerordentlich selten.
Diagnose
Zur Sicherung der Erkrankung stehen heute dem Neurologen verschiedene klinische und biochemische Tests zur Verfügung.
- Der Tensilon-Test: Eine einfache Injektion eines Medikamentes in eine Vene, wonach sich die Beschwerden innerhalb von Sekunden schnell für kurze Zeit deutlich bessern.
- Simulation und Nachweis der schnellen Ermüdbarkeit der Muskulatur durch spezielle Nervenreizungen (Elektromyographie, Einzelfaserelektromyographie).
- Nachweis und Bestimmung der Höhe der Antikörper im Blut.
Verlauf und Heilungsaussichten
Der Verlauf der Erkrankung ist heute unter Ausschöpfung aller Behandlungsmöglichkeiten günstig. Die Myasthenie führt heute nicht mehr zu einer Lebensverkürzung. Die meisten Patienten können ein weitgehend normales Leben führen und ihren Beruf ausüben. Eine 100%ige Kräftigung ist jedoch meist nicht zu erreichen und gewisse Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit müssen toleriert werden. Jeder Myastheniker muss seine eigenen Belastungsgrenzen selbst herausfinden. Für die Zukunft ist zu hoffen, dass die intensive Forschung bald noch bessere und gezieltere Behandlungsmöglichkeiten erbringt und möglicherweise auch eine grundsätzliche Therapie.
Therapiemöglichkeiten
1. Symptomatische Therapie
durch spezielle Medikamente (z. B. Mestinon?, Wirkung 3 – 4 Stunden oder
Prostigmin?, wirkt schneller, aber kürzer) wird der Abbau des Überträgerstoffes Acetylcholin gehemmt und der Nervenimpuls verstärkt. Näheres (Dosierung und Nebenwirkungen siehe Leitfaden für Myasthenia gravis-Patienten).
Bei zu hoher Dosis kann es zu einer sogenannten cholinergen Krise kommen, die eine sofortige intensiv-medizinische Behandlung und Überwachung in einer speziell darauf eingerichteten Klinik erfordert. Das Gegenteil davon ist die myasthene Krise, die trotz regelmäßiger Einnahme von Medikamenten, z. B. als Folge eines fieberhaften Infektes, psychischer Belastung oder durch unsachgemäße Einnahme von Medikamenten, die eine Myasthenia gravis verstärken, auftreten kann (siehe Leitfaden für Myastenia gravis-Patienten). Dabei kommt es zu einer schnell zunehmenden Schwäche der Muskulatur, mit Gefahr der Atem- und Schlucklähmung. Nach Injektion von 1 – 2 Ampullen Prostigmin? ist eine sofortige Einweisung in eine Klinik mit Intensivstation notwendig
2. Thymektomie
Man weiß heute, dass die Thymusdrüse bei der Entwicklung der Erkrankung eine große Rolle spielt. Man rät daher heute allen operationsfähigen Patienten unter 60 Jahren zur operativen Entfernung dieser Drüse, die unter dem Brustbein liegt. Nach der Thymusentfernung besteht, sofern die Operation frühzeitig im Verlauf der Erkrankung durchgeführt wird bei mehr als einem Drittel der Patienten, eine gute Chance, eine Ausheilung der Erkrankung zu erleben. Bei den übrigen Patienten bewirkt die Operation bei etwa einem Drittel eine Besserung. Beim letzten Drittel hat die Operation keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf. Warum dies so ist, weiß man bisher nicht.
3. Immunsuppressive Medikamente
Da der Erkrankung eine krankhafte Immunreaktion des Körpers gegen körpereigene Muskelbestandteile zugrunde liegt, ist eine Immunreaktion hemmende Medikation sinnvoll. Diese Medikamente haben Nebenwirkungen und müssen sehr individuell dosiert werden (siehe Leitfaden für Myastenia gravis-Patienten). Am meisten Erfahrungen hat man mit Azathioprin (Imurek ?). Oft muss man das Medikament, vor allem zu Beginn der Behandlung mit einem Cortison-Präparat (Ultralan? oder Decortin?) kombinieren.
4. Blutaustauschbehandlung
Diese aufwendige, einer Blutwäsche ähnliche Maßnahme kann bei schwer Erkrankten mit bedrohlicher Schwäche der Atemmuskulatur notwendig werden. Durch die Blutwäsche werden die Antikörper aus dem Blut entfernt, so dass sehr schnell die Autoimmunreaktion gemindert werden kann. Als Langzeitbehandlung kommt diese aufwendige Behandlungsmaßnahme nur für wenig Patienten in Frage.
5. Immunmodulation
Die hochdosierte Gabe von Immunglobulinen kann die körpereigene Immunreaktion hemmen. Daher versucht man bei Patienten, die auf die oben aufgeführten Maßnahmen nicht befriedigend ansprechen, auf diese Weise die Autoimmunreaktion zu blockieren. Die Behandlungsmaßnahme ist ohne besondere Nebenwirkungen, aber sehr teuer.
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